Die Fassade tropft!

August 2022

Es ist ein weiter Weg von Berchtesgaden nach Griechenland. Knappe 1400 Kilometer Luftlinie. Und trotzdem stößt man immer wieder auf Griechisches. Betrachtet man im Markt die Fassade des ehemaligen Kerschbaumerhauses, in dem heute ein Drogeriemarkt untergebracht ist, fällt einem ein kleines Detail auf.

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Guttae - stilisierte Harztropfen

An den Fensterumrahmungen der klassizistischen Fassade von 1820 sind vier Dreiecke zu entdecken. Diese finden sich auch an griechischen Tempeln der Antike, vornehmlich am dorischen Tempel, wie das Parthenon auf der Akropolis in Athen einen darstellt. Dort sind sie unterhalb der Triglyphen zu finden. Das sind Steinplatten mit aufrechten Einkerbungen, die in der hölzernen Vorform der griechischen Tempel Holzbalken gewesen sein könnten. Bei diesen hat man von Vorne die Jahresringe gesehen. Als statt Holz Stein als Baumaterial verwendet wurde, wurde die Ansicht des Hirnholzes eventuell in diese Rillen übersetzt.  Unterhalb dieser Triglyphen befinden sich die Guttae, wie die Steintropfen genannt werden. Oft liest man, dass die Guttae bei den Holzbauten einmal Nägel gewesen waren, die mit den Dreiecken nachgebildet wurden. Im ersten Augenblick macht das Sinn, denn woher sollten Tropfen an einem Bauwerk kommen? Doch wenn man sich überlegt, dass darüber dicke Holzbalken lagen, dann fällt einem sofort ein, was da getropft haben könnte – das Harz! Demnach könnten die Guttae, die Tropfen, stilisierte Harztropfen darstellen. Die Tropfen waren einen weiten Weg durch Raum und Zeit gewandert, bis sie endlich in Berchtesgaden ankamen.

Christoph Merker